Von außen betrachtet scheint alles stabil: Wikipedia wird weltweit millionenfach genutzt, redaktionelle Aktivität bleibt hoch, und der Zugriff auf die größte freie Enzyklopädie des Internets ist auch 2025 selbstverständlich. Doch im Inneren rumort es. Eine neue Studie des King’s College London wirft einen scharfen, nüchternen Blick auf das, was sich unter der Oberfläche abzeichnet: ein schleichender Machtwechsel im digitalen Wissensraum, ausgelöst durch Künstliche Intelligenz.
Die Ergebnisse der Forscher sind auf den ersten Blick beruhigend – und zugleich ein Weckruf.
Die Wikipedia lebt – noch
Die Studie, veröffentlicht im Journal Collective Intelligence der Association for Computing Machinery (ACM), untersuchte das Nutzerverhalten auf zwölf Wikipedia-Sprachversionen über einen Zeitraum von drei Jahren. Sechs davon aus Regionen mit aktivem Zugang zu ChatGPT, sechs ohne. Die Bilanz? Kein Rückgang bei Zugriffen oder Bearbeitungen – im Gegenteil: In fast allen Sprachversionen stiegen die Seitenaufrufe leicht an. Selbst dort, wo ChatGPT verfügbar war.
Damit widerspricht die Untersuchung der weit verbreiteten Annahme, KI-Tools wie ChatGPT würden Wikipedia obsolet machen. Der Mensch, so scheint es, vertraut der Enzyklopädie weiterhin – zumindest als stille Kontrollinstanz. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
Die unsichtbare Erosion: KI-Tools nutzen, aber nicht zurückgeben
Denn gleichzeitig zeigen die Forscher auf, wie KI-Modelle im Hintergrund längst ein neues Verhältnis zu Wikipedia geschaffen haben. Sie extrahieren massenhaft Daten, oft automatisiert über sogenanntes Scraping, um sich mit dem kollektiven Wissen der Enzyklopädie zu trainieren. Diese Praxis ist legal – aber problematisch.
Wikipedia selbst profitiert davon kaum. Denn die meisten generativen KI-Systeme zitieren Wikipedia nicht, verlinken nicht zurück, führen keinen Traffic mehr zu den Originalseiten. Das bedeutet: Die Inhalte werden zwar genutzt, aber die Plattform, die sie bereitstellt, verliert an Sichtbarkeit – und langfristig an Relevanz.
„KI-Entwickler schicken ihre Scraper auf Wikipedia los, treiben die Serverlast in die Höhe und liefern dann Antworten, die aussehen, als kämen sie aus dem Nichts“, sagt Professorin Elena Simperl, Informatikerin am King’s Institute und Mitautorin der Studie. Das ist nicht nur eine Frage der Ressourcen, sondern auch eine des digitalen Fair Plays.
Eine Frage der Verantwortung – und der Zukunft
Neal Reeves, Erstautor der Studie, geht noch einen Schritt weiter: Er fordert einen „gesellschaftlichen Neuvertrag“ zwischen Wikipedia und den KI-Firmen. Das Prinzip: Wer Wikipedia nutzt, um kommerzielle Systeme zu trainieren, soll auch etwas zurückgeben – sei es in Form von Infrastrukturunterstützung, Transparenz oder wenigstens einer fairen Erwähnung.
Die Dringlichkeit dieser Forderung wird durch aktuelle Entwicklungen unterstrichen: Am selben Tag der Studienveröffentlichung kündigte Wikimedia Deutschland das „Wikidata Embedding Project“ an – ein neues System, das es KI-Modellen erleichtern soll, auf kuratierte, verifizierte Wikipedia-Daten zuzugreifen. Ziel: KI mit nachvollziehbaren, zuverlässigen Quellen zu versorgen – und Wikipedia als Quelle sichtbar zu machen.
Denn die eigentliche Gefahr liegt nicht im Datenklau. Sie liegt darin, dass Wikipedia durch die zunehmend unsichtbare Nutzung ihrer Inhalte den Platz im öffentlichen Bewusstsein verlieren könnte – während andere Plattformen mit ihren Daten neue Geschäftsmodelle aufbauen.
Warum das alle betrifft
Wikipedia ist keine gewöhnliche Website. Sie ist ein kulturelles Fundament des freien Internets – nicht gewinnorientiert, nicht werbefinanziert, nicht von Algorithmen gesteuert. Ihre Inhalte stammen von Menschen, die freiwillig schreiben, prüfen, diskutieren. Dieses System ist radikal – und fragil.
Wenn nun KI-Systeme mit diesen Inhalten agieren, ohne sich an den sozialen Vertrag dahinter zu binden, dann droht ein schleichender Verlust: an Transparenz, an Vertrauen, an kollektiver Kontrolle über unser digitales Wissen.
Die Frage, ob Wikipedia „überlebt“, ist also falsch gestellt. Die Frage muss lauten: in welcher Form, unter welchen Bedingungen, und mit wessen Unterstützung überlebt sie?
Fazit: Die Wikipedia braucht mehr als Klicks – sie braucht Bewusstsein
Wikipedia ist lebendig. Noch. Sie wird genutzt, zitiert, abgeschrieben – von Menschen wie von Maschinen. Doch sie steht an einem Wendepunkt. Nicht wegen rückläufiger Nutzerzahlen, sondern weil sich die Spielregeln verändern. Wenn KI die Zukunft des Wissens wird, dann muss auch Wikipedia Teil dieser Zukunft sein – nicht als stiller Lieferant, sondern als aktiver Partner.
Das bedeutet: Technologieunternehmen müssen Verantwortung übernehmen. Politik und Gesellschaft müssen Regeln finden. Und wir alle – ob als Leser, Entwickler oder Entscheidungsträger – müssen erkennen, dass freies Wissen nicht selbstverständlich ist.
Denn Wissen ist Macht. Und wer das Fundament vergisst, auf dem es steht, verliert früher oder später den Halt.

